Als ich Kind war, stellte ich mir manchmal vor, die Wände und Mauern der Kirchen würden alle Gebete und Lieder aufnehmen, die in ihnen je gesprochen oder gesungen wurden, und sie würden sie speichern, wie die Steine der Häuser und Straßen im Sommer noch lange die Wärme des Tages. Dieses Bild kommt mir auch heute manchmal in den Sinn, wenn wir uns im Chor auf ein Konzert vorbereiten und das Programm für nahezu alle Chormitglieder neu ist: ob das Musikstück wohl auch ganz neu, ganz unbekannt für die Kirche ist? Wird das eine erste Begegnung werden? Hat unsere Schlosskirche schon einmal die Bekanntschaft mit dem in Frankreich berühmten Weihnachtsoratorium der Romantik, dem Oratorio de Noel von Camille Saint-Saens geschlossen? Steckt in ihren Mauern schon ein Wissen um Mendelssohns Kantate über das Lutherlied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“? Bleibe ich in diesen Gedanken zu lange hängen, verändert sich mein inneres Bild vom Kirchengebäude unmerklich und kommt mir entgegen wie eine farbige Zeichnung in einem Kinderbuch, die in einem Moment lebendig wird: Es scheint, als habe das Gotteshaus auch etwas von einem Lebewesen, käme wie ein sanfter riesiger Pudel neugierig einen halben Schritt auf die noch unbekannte Musik zu (im Schlosshof) oder nähme – im Gewand der Marienkirche – mit in Freundlichkeit ausgebreiteten Armen die neuen Klänge entgegen. Die dicken Mauern scheinen wie wohlwollende Speicher alles aufzubewahren und als ein Archiv zu dienen, Feldsteine und gebrannte Ziegel die Eigenschaften von beschreibbarem Papier zu haben und von Geräten, die Schall aufzeichnen – oder ganz einfach ein besonderes Gedächtnis.
Beim Rückblick auf das noch aktuelle Jahr, in dem wir 500 Jahre Kirchengesangbuch feiern, fällt mir auf, dass ich bei diesen „Begegnungen“ von Raum und Komposition nie an die Gemeindelieder gedacht habe. Dabei wird es Jahre gegeben haben, in denen die Kirchenwände und Säulenpfeiler Sonntag für Sonntag immer neuen Liedern eine Resonanzfläche waren, ständig Neues kennenlernten: 1524, als Johann Walter für die Herausgabe seines Chorgesangbuchs komponierte, könnte so ein Jahr gewesen und die Lieder dieses Büchleins (größtenteils Sätze zu den damals neuen, reformatorischen Weisen) auf der Sängerempore der Stadtkirche St. Marien fast noch „aus feuchter Tinte“ erprobt und gesungen worden sein. In anderen Jahren und vor allem in späteren Jahrhunderten bot wohl oft auch das Singen immer gleicher Lieder Halt. (Die Wände in meinem Kinderbuch hätten gegähnt. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht und sie hätten die Ohren gespitzt oder, das ist sogar wahrscheinlicher, leise mitgesummt. Schließlich vibrieren ja auch Kirchenbänke bei manch lautem Orgelklang mit.) Hörten die Steine in den Mauern vielleicht sogar Gesänge, von denen wir – würden wir sie kennen – heute froh wären, dass sie nicht mehr gesungen werden? Kennen unsere Orgeln, kennen Sie und ich zusammengenommen alle Lieder, die im aktuellen Gesangbuch stehen? Welche der Lieder, die wir in diesem Jahr im Gottesdienst gesungen haben, werden die Kinder unserer Kinder noch singen? Wie werden die Lieder klingen, die die Menschen in 500 Jahren singen, wenn sie Advent feiern, Gott um Frieden bitten, ins neue Jahr gehen?
Und welcher Anlass mag es dann sein, wenn ein Lied gesucht wird – eines, das Trost schenkt, oder ein altertümliches mit einer fast meditativ anmutenden Melodie, das mit der Anrede an einen ,Heiland der Heiden´ beginnt – und die Mauern der Schlosskirche zu flüstern scheinen „Wartet – ich glaube, ich hab da was für Euch gespeichert…“.
Christiane Bräutigam